Natürlich lohnt es sich, Latein zu lernen. Es mag ja sein, das die sofortigen (beispielsweise beruflichen) Vorteile der Altsprachen im Vergleich zu den modernen Fremdsprachen auf den ersten Blick recht kläglich erscheinen. Doch genau das macht den Unterschied zwischen einfacher Ausbildung und einer umfassenden Bildung aus: Bildung darf niemals ausschließlich nach beruflichem Erfolg und wirtschaftlichem Nutzen richten. Es geht bei der Bildung um das Verstehen komplexer Zusammenhänge und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit; es geht darum, sich in der Welt orientieren und selbstbestimmt leben zu können. Um diese Fähigkeiten zu erlernen, benötigt man selbstverständlich auch die neuen Sprachen, die Naturwissenschaften und die Mathematik. Die alten Sprachen sind keineswegs Ersatz für all die anderen Fächer, aber sie sind in jedem Falle eine höchst sinnvolle Ergänzung: Man erhält Einblicke in eine völlig andere (und auch in die eigene) Kultur, und auch für das Verständnis Europas in all seinen Dimensionen ist Latein unerlässlich. Außerdem schließen Latein und Altgriechisch eine Lücke, die an deutschen Schulen im Vergleich zu anderen (laizistischeren) europäischen Ländern sehr groß ist: Das Unterrichtsfach Philosophie wird viel zu wenig und in viel zu kleinem Umfang angeboten, obwohl es sich bei ihr um die grundlegendste Art des Denkens und Lernens handelt. Die alten Sprachen ermöglichen es, sich an der Schule dennoch intensiv mit der Philosophie - vor allem mit ihren Ursprüngen - zu beschäftigen. Latein wird (genauso wie altgriechisch und hebräisch) in der Öffentlichkeit immer ein Rechtfertigungsproblem haben und die Fachvertreter werden ihr Fach immer und immer wieder erklären und begründen müssen, da es sich bei Latein (s. o.) um ein klassisches Bildungsfach handelt und es nun einmal zu den ureigensten Eigenschaften der Bildung gehört, dass es nicht messbar ist. Doch meiner Meinung nach sollte man diese "Last" der Lateinfreunde eher als Chance sehen, als Antrieb, die eigene Position immer wieder zu hinterfragen und sich immer wieder auf's neue Gedanken über das eigene handeln zu machen [,was im übrigen auch zu den sogenannten Sekundärtugenden gehört, die im altsprachlichen Unterricht vermittelt werden: man lernt, die eigene Lösung mit einer gewissen Ausdauer immer wieder zu überarbeiten und zu verbessern]. In diesem Sinne möchte ich hiermit ausdrücklich all diejenigen, die bisher noch nicht das Vergnügen hatten, sich mit der lateinischen Sprache auseinanderzusetzen, dazu ermuntern, das Wagnis einzugehen - es lohnt sich!
PS: Das Argument, man könne moderne, insbesondere romanische Sprachen durch Latein leichter erlernen, ist in meinen Augen falsch. Vermutlich könnte man in der Zeit, die man aufwendet, um Latein zu lernen, sogar zwei weitere moderne Fremdsprachen erlernen. Aber: Der Vorteil Lateins für den Erwerb moderner Sprachen liegt darin, dass man die Sprache und ihre Bestandteile wesentlich besser versteht; der eigentliche inhaltliche Kern bestimmter Vokabeln erschließt sich z. B. nur durch die Kenntnis der lateinischen Wurzel. Davon abgesehen stellt Latein den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte und damit der Kultur des anderen Landes dar, denn Sprachenerwerb ist mehr als das Bestellen eines Cafés oder das Fragen nach dem richtigen Weg zur Bushaltestelle. Es ist das Durchdringen der spezifischen Gepflogenheiten des anderen Landes, das Verstehen der Kultur. Doch gerade das erreicht man nicht, indem man auf schnellstmögliche Weise praxisnahe Redewendungen auswendig lernt und dann behauptet, man spreche und verstünde diese Sprache. ____________________________________________________________________________________ Dimidium facti, qui coepit, habet: Sapere aude, incipe!
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